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Übersicht: AktuellesErstellt am: 23.09.2020

Kolorektale Karzinome (Darmkrebs) sind die dritthäufigste krebsbedingte Todesursache. Sie bedürfen in der Therapie einer guten Integration und Koordination von Chirurgie, Strahlentherapie und systemischer Therapie. Zunehmende Bedeutung in der Behandlung des Rektumkarzinoms gewinnt dabei auch die Protonentherapie. Frau Yi-Lan Lin, Fachärztin für Strahlentherapie, ist seit April 2020 Oberärztin am WPE und erläutert im Interview die Vorteile der Protonen, insbesondere mit Blick auf die Therapie von Lokalrezidiven.

Frau Lin, wie sieht der derzeitige Therapiestandard bei kolorektalen Karzinomen aus?
Das ist abhängig vom jeweiligen Befund, also davon, wo genau sich der Tumor befindet, wie groß er ist, ob es bereits Fernmetastasen gibt und davon, ob er operabel ist oder nicht. Tatsächlich hat sich durch den Einsatz der so genannten totalen mesorektalen Exzision (TME), mittlerweile chirurgisches Standardverfahren, die Lokalrezidivrate, also das erneute Auftreten von Tumoren, erheblich reduziert. Allerdings sind hier die Komplikationen, also etwa Stuhlinkontinenz oder Anastomoseinsuffizienz, nicht zu unterschätzen. In fortgeschrittenen Tumorstadien ist eine alleinige Operation zudem nicht mehr ausreichend. Hier ist dann die Kombination der Radiotherapie mit einer Chemotherapie angezeigt oder eine alleinige Kurzzeit-Strahlentherapie – in der Regel im Vorfeld der OP, bisweilen aber auch im Anschluss. Einziger Therapiestandard bei Patienten mit lokal fortgeschrittenem, primär inoperablem Rektumkarzinom ist derzeit eine kombinierte Radiochemotherapie.

Welche besonderen Herausforderungen gibt es bei der Behandlung eines Rektumkarzinoms?
Trotz der signifikanten Fortschritte bei den Therapieoptionen liegt die Lokalrezidivrate bei kolorektalen Karzinomen nach wie vor bei drei bis fünf Prozent. Das lokal rezidivierte Rektumkarzinom kann schwerwiegende Symptome wie Schmerzen, Blutungen und Darmverschlüsse verursachen, zudem spiegelt es das aggressive Wachstumsverhalten des Primärtumors wider und geht oft mit dem Auftreten von Fernmetastasen einher. Meist bleibt eine radikale chirurgische Entfernung die Therapie der Wahl, wenn eine mikroskopische komplette Resektion möglich ist. Dies ist jedoch nur bei 20 bis 40 Prozent der Patientinnen und Patienten mit einem Lokalrezidiv der Fall. Tatsächlich wird die Entscheidung zu einer kurativen Tumorresektion durch verschiedene Faktoren erschwert.

Welche sind das?
Beispielsweise die Rezidivmuster, aber auch die mögliche Beeinträchtigung empfindlicher Nachbarstrukturen, etwaige Folge- oder Begleiterkrankungen oder eine Beeinträchtigung der allgemeinen Kondition. Tatsächlich spielt das Thema Lebensqualität hier grundsätzlich eine wichtige Rolle. Haben die Rezidive bereits den Beckenknochen oder den sakralen Nervenplexus angegriffen, rufen sie Schmerzen hervor und lassen sich meist nicht mehr operativ entfernen. In solchen Fällen sollte eine Strahlentherapie in Betracht gezogen werden, die sich insbesondere im Hinblick auf die Schmerzlinderung als effektiv erwiesen hat.

Welche Vorteile bietet die Protonentherapie in diesem Zusammenhang?
Auch wenn die konventionelle Strahlentherapie mit Photonen in den vergangenen Jahrzehnten enorme Fortschritte gemacht hat, ist bei diesem Verfahren die Strahlendosis außerhalb des eigentlichen Zielvolumens nach wie vor beträchtlich. Im Falle eines Rektumkarzinoms sind hier vor allem der bestrahlte Bereich des Knochenmarks, die Harnblase und der nicht befallene Darm betroffen. Im Vergleich dazu hat die Protonentherapie überlegene dosimetrische Vorteile. Denn die eigentliche Strahlungsenergie wird zielgenau im Tumor abgegeben, und die Integraldosis kann an benachbarten Risikoorganen signifikant reduziert werden. Anders gesagt: Das umliegende gesunde Gewebe wird bestmöglich geschont. Dies ist insbesondere wichtig, da Patienten durch die Chemotherapie – sei es vor, während oder nach der Strahlenbehandlung – bereits unter erhöhten Nebenwirkungen an Knochenmark und Darmtrakt leiden und dementsprechend nicht selten die Chemotherapie pausieren müssen. Solche Pausen können schlimmstenfalls zu einer verminderten Wirksamkeit der Therapie führen. Daher sollten die Optionen inklusive einer Protonentherapie bei Patienten mit einem nicht-resezierbaren Rektumkarzinom, sowohl in der Primär- als auch in der Rezidivsituation, in interdisziplinären Tumorboards besprochen werden.

Interdisziplinäre Tumorboards
Das Westdeutsche Protonentherapiezentrum Essen ist Teil des Westdeutschen Tumorzentrums (WTZ) am Universitätsklinikum Essen, einem der größten onkologischen Zentren Deutschlands. In interdisziplinären Tumorkonferenzen, so genannten Tumorboards, werden Behandlungsmethoden und Therapieziele der Patienten gemeinsam besprochen und festgelegt.

Zur Website des Westdeutschen Tumorzentrums

Gibt es konkrete Beispiele von Patienten mit einem kolorektalen Karzinom, die am WPE behandelt wurden?
Wir hatten aktuell einen Patienten in Behandlung, bei dem ein präsakrales Rezidiv eines Rektumkarzinoms im oberen Drittel festgestellt wurde – zwei Jahre nach der primären Resektion und einer vorangegangenen Chemotherapie. Da bereits die Beckenwand betroffen ist und damit der Tumor inoperabel war, wurde im interdisziplinären Tumorboard eine definitive Strahlentherapie mit Protonen in Kombination mit einer Chemotherapie empfohlen. Die Protonentherapie wurde vom Patienten gut toleriert. Bereits nach einer Woche berichtete er über eine vollständige Rückbildung der Schmerzsymptomatik und er konnte mehrere Stunden lang sitzen bleiben.
Wir haben für diesen Patienten zwei Bestrahlungspläne zum Vergleich erstellt: Einmal mit intensitätsmodulierter Protonentherapie (IMPT) aus zwei dorsalen Bestrahlungsfeldern und einmal mit intensitätsmodulierter Photonentherapie (IMRT) als Volumetric Modulated Arc Therapy (VMAT) mit Mehrfeldertechnik. Damit der Vergleich fair bleibt, haben beide Pläne dieselben Zielsetzungen erfüllen müssen.

Und das Ergebnis?
Es hat sich gezeigt, dass der IMPT-Plan deutliche dosimetrische Vorteile gegenüber dem VMAT-Plan hat: Risikoorgane wie der Darm, die Harnblase sowie das Knochenmark werden in den Niedrigdosisbereichen deutlich geringer belastet. Patienten können von dieser überlegenen Schonung der Risikoorgane hoffentlich profitieren, da sie während und nach der Strahlenbehandlung in Kombination mit der simultanen Chemotherapie insgesamt weniger Nebenwirkungen an Darm, Blase und Knochenmark zeigen und somit eine bessere Lebensqualität erzielen können.

Welche Bedeutung könnte dies für mögliche Therapieoptionen bei Rektumkarzinomen haben?
Zukünftig gilt es, die Optionen bei der Therapie kolorektaler Karzinome weiter zu optimieren und zu individualisieren. Therapieansätze wie beispielsweise eine dosiseskalierte Strahlentherapie kombiniert mit neuartigen antineoplastischen Medikamenten und Hyperthermie, die intraoperative Radiotherapie bzw. Brachytherapie sowie selbstverständlich die Partikeltherapie, also die Protonen- und Schwerionentherapie, sollten künftig vertieft in prospektiven randomisierten Studien untersucht werden. Das Ziel muss es sein, Patientinnen und Patienten individuell die bestmögliche Behandlung zukommen zu lassen. Und dabei wird die Protonentherapie eine wichtige Rolle spielen.

Yi-Lan Lin ist Oberärztin in der Klinik für Partikeltherapie am WPE; zuvor war sie bereits in München am RPTC in der Protonentherapie tätig. Ihre Schwerpunkte liegen in den Bereichen Kopf-Hals-Tumoren, bewegliche Organtumoren und Re-Bestrahlungen.