0201 723 6600
Übersicht: AktuellesErstellt am: 19.07.2017

In Deutschland erkranken jedes Jahr etwa 1.800 Kinder an Krebs; etwa die Hälfte davon erhält eine Strahlentherapie. Dies sei oft Anlass für zusätzliche elterliche Ängste, sagt Prof. Dr. med. Beate Timmermann. Im Interview erklärt die Direktorin der Klinik für Partikeltherapie und Ärztliche Leiterin des Westdeutschen Protonentherapiezentrums Essen (WPE), warum die Strahlentherapie heute wesentlich verträglicher und effektiver ist als früher und weshalb insbesondere konformale Techniken wie die Protonentherapie bei Tumorerkrankungen im Kindesalter zunehmend an Bedeutung gewinnen.

Frau Prof. Timmermann, welche Rolle spielt die Strahlentherapie bei Tumorerkrankungen im Kindesalter?

Die Behandlung von Tumorerkrankungen bei Kindern und Jugendlichen in Deutschland erfolgt heute zu mehr als 90 Prozent in Therapiestudien der Gesellschaft für Pädiatrische Onkologie und Hämatologie (GPOH). Die Strahlentherapie ist integraler Bestandteil dieser onkologischen Gesamtkonzepte, insbesondere bei der Behandlung solider Tumoren, also etwa Tumoren des Zentralen Nervensystems (ZNS) sowie der Knochen- und Weichteilgewebe und – in deutlich geringerem Umfang – auch bei Erkrankungen des Knochenmarks oder Lymphsystems. Oftmals wird sie in Kombination mit anderen onkologischen Therapieverfahren, also chirurgischen Eingriffen oder einer Chemotherapie, eingesetzt. Indiziert ist eine Strahlentherapie etwa in Fällen, in denen ein Tumor nur teilweise chirurgisch entfernt werden kann oder ein solcher Eingriff gar keine Option darstellt, weil er zu gefährlich wäre. Grundsätzlich gilt: Eine Bestrahlung ist bei vielen Erkrankungen trotz Chemotherapie unverzichtbar. Dennoch sollte jegliche Strahlentherapie im Kindesalter sorgfältig begründet und individuell gegen das potenzielle Rückfallrisiko abgewogen werden.

Warum diese besondere Vorsicht?

Kindliche Tumoren sind – und das ist natürlich von Vorteil – oft sehr empfindlich gegenüber ionisierender Strahlung. Zugleich ist jedoch auch das noch unreife, gesunde Gewebe besonders anfällig für strahleninduzierte Nebenwirkungen. Bei Kindern ist zum Beispiel auch das Risiko für die Entstehung von Zweittumoren nach einer Strahlentherapie höher als bei Erwachsenen. Hinzu kommen andere Risiken wie etwaige Wachstumsstörungen. Unser Ziel muss es daher sein, Verfahren anzubieten, die – bei größtmöglicher Effektivität – zugleich ein Maximum an Schonung bieten. Neben der oft ja bereits hervorragenden Tumorheilung als solcher spielen bei modernen Therapien mittlerweile daher auch Faktoren wie die spätere Lebensqualität der jungen Patienten eine große Rolle.

Welche konkreten Zielsetzungen sind mit einer modernen Strahlentherapie verbunden?

Noch vor 20 Jahren erhielten beispielsweise beinahe alle Kinder mit Hirntumoren nahezu identische Bestrahlungsdosen, und es wurden bei fast allen Kindern auch ähnliche Bestrahlungs- oder Zielgebiete gewählt – zumeist das gesamte Zentrale Nervensystem. Neue Bestrahlungstechniken, die die Dosis präzise auf das tumortragende Gewebe bringen können, moderne Bildgebungsverfahren und erweiterte Kenntnisse über notwendige Dosierungen und Therapiefelder ermöglichen mittlerweile eine individuelle Anpassung der Intensität an die Situation – und damit eine Maximierung der Tumorkontrollraten bei Minimierung der akuten und chronischen Therapiefolgen. Man geht also heute deutlich differenzierter vor als früher. Zugleich sind diese Fortschritte enorm erfolgreich: Lag die durchschnittliche Überlebensrate von an Krebs erkrankten Kindern in den 1950er-Jahren noch unter 20 Prozent, so beträgt sie heute etwa 80 Prozent.

Welche Vorteile hat in diesem Zusammenhang insbesondere die Protonentherapie?

Bei einer Protonentherapie werden – anders als bei der konventionellen Photonentherapie – nicht hochenergetische elektromagnetische Wellen, sondern geladene Wasserstoff-Ionen (Protonen) eingesetzt, die präzise in der Körpertiefe steuerbar sind. Sie dringen zunächst ohne größere Wechselwirkung in das Gewebe ein und geben dann schlagartig ihre Wirkung ab. Tumoren lassen sich also sehr präzise bestrahlen, während empfindliche Nachbarstrukturen gleichzeitig besser geschont werden. Tatsächlich kann die Strahlenbelastung des normalen Gewebes mit Protonen im Vergleich zur herkömmlichen Bestrahlung mit Photonen um den Faktor zwei bis drei relevant reduziert werden. Diese Protonentherapie erfordert allerdings ein hohes Maß an Expertise – die das WPE als eines von bundesweit nur sechs Zentren bieten kann ­– bei gleichzeitig klinisch großen Erfahrungen in der Versorgung von krebskranken Kindern.

Bei welchen Erkrankungen ist insbesondere bei Kindern eine Protonentherapie sinnvoll?

Vorherrschende Diagnosen der Kinder im WPE sind Tumoren des ZNS – die prinzipiell zweithäufigste Krebserkrankung im Kindesalter – sowie Knochen- bzw. Weichteilsarkome. Vor allem bei Hirntumoren, die oft in der Nähe kritischer Strukturen wie Hirnstamm, Hör- und Sehnerven diagnostiziert werden, hat sich eine präzise hochkonformale Dosisverteilung bewährt, wie sie die Protonentherapie möglich macht. Die Therapie von malignen Hirntumoren beinhaltet dabei meist einen multimodalen Ansatz, bestehend aus Operation, Strahlen- und Chemotherapie. Die begleitende, umfassende kinderonkologische Betreuung übernimmt während der meist etwa sechswöchigen Protonenbehandlung am WPE die Kinderklinik des Universitätsklinikums Essen, wo klinische Kontrollen, supportive Maßnahmen oder auch parallele Chemotherapien erfolgen können. Wenn Kinder aus benachbarten Häusern in NRW kommen, können sie aber auch dort weiterversorgt werden und pendeln dann nur zur Bestrahlung zu uns nach Essen.

Welche Nebenwirkungen sind bei einer Protonentherapie zu erwarten?

Während einer Strahlentherapie können lokale Reizungen in der Bestrahlungsregion auftreten, etwa an Haut oder Schleimhäuten. Wird parallel eine Chemotherapie durchgeführt, sind auch Blutbildveränderungen und eine Verstärkung der Schleimhautreizungen zu beobachten. Seltener als Erwachsene leiden junge Patienten dagegen an Appetitlosigkeit oder Müdigkeit. Ansonsten hängen die Reaktionen sehr individuell vom bestrahlten Gebiet, den Dosierungen und Begleitmaßnahmen ab. In der Regel erfolgt die Bestrahlung ambulant, und die Kinder können den Kindergarten oder die Schule meist weiter besuchen.

Und Langzeitfolgen?

Bisherige Erfahrungen mit der Protonentherapie sind erfreulich, aber natürlich noch relativ jung und müssen daher in längeren Nachbeobachtungsprogrammen bestätigt werden. Hoffnung macht, dass in einigen Untersuchungen etwa bei kindlichen Hirntumoren nach PT keine größeren neurokognitiven Defizite nach der Therapie gefunden werden konnten. Im Hinblick auf das oft sehr junge Alter der behandelten Kinder ist das wirklich erfreulich. Um genauere Aussagen über Langzeiteffekte oder auch die Inzidenz von Zweittumoren treffen zu können, bedarf es aber wie gesagt weiterer Untersuchungen mit größeren Patientenkohorten, prospektivem Untersuchungsdesign und längeren Beobachtungszeiträumen. Zusätzlich zu den diagnosespezifischen Studien der GPOH führen wir daher auch ein eigenes prospektives Register für die Kinder mit PT zur Sammlung und Auswertung von Krankheits- und therapiebezogenen Daten und auch Nebenwirkungen. Weitere wissenschaftliche Projekte am WPE nehmen die Lebensqualität im Anschluss an die Therapie sowie endokrinologische Aspekte in den Fokus. Unsere eigenen, vorläufigen Erfahrungen sind – auch bei Kindern in sehr jungem Alter – wirklich vielversprechend.

Welche Herausforderungen sind – zusätzlich zu den rein medizinischen – bei jungen Krebspatienten außerdem zu meistern?

Gerade die Bestrahlungssituation als solche ist nicht einfach: Kinder und Familien kommen mit vielen Ängsten zu uns und sollen dann in kurzer Zeit alles verstehen und richtig funktionieren, damit die Behandlung schnell und reibungslos abläuft. Das gelingt natürlich so einfach oft nicht. Wir brauchen Zeit und Geduld und manchmal auch mehrere Anläufe. Die jeweilige Bestrahlungsposition muss täglich präzise und reproduzierbar eingenommen werden. Hier helfen Lagerungs- und Immobilisierungshilfen wie Masken und Vakuumkissen. Ältere Kinder ab etwa fünf bis sechs Jahren lassen sich im Gespräch sowie spielerisch motivieren, über längere Zeit vollständig ruhig liegen zu bleiben. Kuscheltiere, Hörbücher, Musik oder Vorlesen können hier sehr helfen. Bei kleineren Kindern, denen das Verständnis für die Situation noch fehlt, können wir eine Sedierung anbieten, so dass die Therapie quasi im Schlaf erfolgt. Diese werden im WPE von einem erfahrenen, auf die Behandlung von Kindern spezialisierten Anästhesie-Team durchgeführt. Da uns bewusst ist, wieviel Geduld und Mut wir unseren kleinen Patienten abverlangen, gibt es übrigens auch eine „Belohnung“. Das sind unsere sogenannten „Mut-Perlen“: Nach jeder Therapiesitzung suchen sich die Kinder eine Perle aus, die sie auf eine Schnur auffädeln, bis sie eine ganze Kette zusammen haben. So veranschaulichen sie sich gleichzeitig ihre persönlichen Fortschritte in der Therapie.

Welche Patienten werden im WPE behandelt und welche Erfahrungen haben Sie dabei sammeln können?

Ich habe ja bereits dargestellt, dass wir einen besonderen Schwerpunkt im Bereich der Behandlung von Kindern haben. Fast 60 Prozent aller Patienten im WPE sind jünger als 18 Jahre. Etwa die Hälfte der Kinder ist sogar im Alter unter sechs Jahren. Mehr als die Hälfte davon wiederum ist an Hirntumoren erkrankt. Eine weitere große Gruppe sind die Patienten mit Sarkomen. Es gibt aber weitere, spezielle Forschungsbereiche bei uns und in der Kinderklinik für sehr seltene Tumoren, die sich auf unser Behandlungsspektrum auswirken: So ist in Essen das Deutsche Register für Retinoblastome (Tumoren des Auges) angesiedelt, für die wir hier natürlich auch eine Protonentherapie anbieten, wenn es indiziert ist. Wir beraten am WPE zur Strahlentherapie viele weitere Studien wie beispielsweise die Neuroblastomstudie, so dass wir auch für Kinder mit Neuroblastomen regelmäßig zur Therapie einbezogen werden. Ich denke, dass die Zentralisierung der Behandlungen erstmals erlaubt, größere Erfahrungen in sehr seltenen und zugleich schwierigen Situationen auch von Seiten der Strahlentherapie zu sammeln. In den meisten strahlentherapeutischen Einrichtungen wurden solche Fälle früher nur alle paar Jahre gesehen. Unsere Erfahrung hilft sehr, gemeinsam mit den Eltern und den behandelnden Kollegen für jedes Kind ein gutes Behandlungskonzept zu erarbeiten.

Mit seinem gezielt kinderstrahlentherapeutischen Schwerpunkt nimmt das WPE mittlerweile auch Aufgaben in der Fortbildung wahr…

Das ist richtig: Regelmäßig hospitieren Ärzte, MTRA und Physiker aus ganz Europa bei uns, weil sie  an unseren Erfahrungen teilhaben wollen. Für die deutsche Fachszene wurde zudem 2012 die interdisziplinäre Fortbildungsveranstaltung „Strahlentherapie von Krebserkrankungen im Kindesalter” ins Leben gerufen – in Zusammenarbeit mit der Arbeitsgemeinschaft für pädiatrische Radioonkologie (APRO), der Deutschen Gesellschaft für Radioonkologie (DEGRO), der GPOH und unterstützt durch die Deutsche Kinderkrebsstiftung (DKKS). Unser gemeinsames Ziel dabei ist ganz klar: Wir wollen unsere Erfahrungen teilen und immer besser darin werden, Kindern eine wirksame Tumortherapie und ein langes, glückliches Leben zu ermöglichen.

Prof. Dr. med. Beate Timmermann ist Direktorin der Klinik für Partikeltherapie und Ärztliche Leiterin des Westdeutschen Protonentherapiezentrums Essen (WPE) am Universitätsklinikum Essen. Sie ist Fachärztin für Radioonkologie mit langjähriger Erfahrung auf dem Gebiet der angewandten Protonentherapie. Ihr Arbeits- und Forschungsschwerpunkt liegt dabei in der Behandlung von Hirntumoren, Sarkomen, Chordomen und Chrondrosarkomen im Kindes- und Erwachsenenalter. Prof. Timmermann ist Gründerin und Leiterin des Beratungszentrums für Partikeltherapie in der pädiatrischen Onkologie in Deutschland. In vielen GPOH-Studien leitet sie das Referenzzentrum der Strahlentherapie. Sie war viele Jahre lang die Sprecherin der Arbeitsgemeinschaft für pädiatrische Radioonkologie (APRO). Sie ist Mitglied in der Deutschen Gesellschaft für Radioonkologie (DEGRO), der Deutschen Gesellschaft für Pädiatrische Onkologie und Hämatologie (GPOH), der Particle Therapy Co-Operative Group (PTCOG), der Society for Paediatric Radiation Oncology (PROS) sowie der European Society for Therapeutic Radiology and Oncology (ESTRO).